20 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - die Opfer mahnen

05.04.2006

Die Arbeitsgruppe Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der SPD-Bundestagsfraktion hat am 5. April 2006 nachfolgende Resolution beschlossen:

In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 ereignete sich im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl in der heutigen Ukraine eine unkontrollierte Kettenreaktion, die zur Zerstörung des Reaktorblocks 4 und zur weiträumigen Freisetzung von Radioaktivität führte. Ursachen dieser Katastrophe waren neben technischen Mängeln des Reaktortyps auch menschliches Versagen.
Neben der Havarie im amerikanischen Atomkraftwerk „Three Mile Island“ nahe Harrisburg/USA am 28. März 1979 gilt die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl heute als schwerster ziviler Unfall bei der Erzeugung von elektrischer Energie durch Atomkraft.
In den ersten zehn Tagen nach der Explosion kam es zur massiven Freisetzung von radioaktivem Material (Jod-131 und Caesium-137) in die Umwelt. Besonders betroffen waren Gebiete in Belarus, Russland und der Ukraine. Eine radioaktive Wolke verteilte die Substanzen aber auch über weite Teile Westeuropas.
Insgesamt wurden in ganz Europa Flächen von mehr als 200 000 Quadratkilometer kontaminiert. Auch weite Teile Süd- und Ostdeutschlands waren betroffen. Die Angst vor den Folgeschäden der Strahlenexposition führte zu einer starken Verunsicherung in der Bevölkerung. Laut Strahlenschutzkommission hat die durchschnittliche Strahlenbelastung auch im ersten Jahr nach der Reaktorkatastrophe den zulässigen Grenzwert in Deutschland nicht überschritten und nimmt seitdem kontinuierlich ab. Dennoch finden sich in Lebensmitteln aus Waldgebieten in den besonders belasteten Gebieten Süddeutschlands auch heute noch stark erhöhte Cäsium-137-Werte.
116 000 Menschen wurden unmittelbar nach der Katastrophe aus einer 30-Kilometer-Zone rund um den Unglücksreaktor evakuiert. In den folgenden Jahren mussten weitere 230 000 Einwohner umgesiedelt werden. Zwischen 200 000 und 800 000 Menschen wurden als so genannte Liquidatoren beim Bau einer Beton- und Stahlummantelung - dem so genannten Sarkophag - zur Abschirmung des Unglücksreaktors und zu Aufräumarbeiten eingesetzt.
Die Zahl der Opfer bleibt umstritten. Dies liegt in erster Linie daran, dass es sich bei Gesundheitsbeeinträchtigungen durch radioaktive Strahlung um Langzeitschädigungen handelt. Ein kausaler Zusammenhang zum Reaktorunglück ist daher in vielen Einzelfällen nicht zweifelsfrei nachweisbar und damit offen für interessengeleitete Auslegungen. Dieser Zustand wird noch dadurch begünstigt, dass durch die Informationspolitik der damaligen sowjetischen Behörden und den späteren Zerfall der Sowjetunion nur unzureichende und widersprüchliche Informationen über das Ausmaß der Katastrophe und die Zahl der betroffenen Menschen vorliegen.
Im September 2005 wurde von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und sechs VN-Unterorganisationen der Bericht „Tschernobyls Vermächtnis: Die gesundheitlichen, ökologischen und sozioökonomischen Folgen“ vorgelegt. Der Bericht kommt zu der Einschätzung, dass bis zu 4000 Menschen aus Belarus, der Ukraine und Russland an den Spätfolgen der Reaktorkatastrophe sterben werden. Bei 4000 Kindern kam es bislang zum Ausbruch von Schilddrüsenkrebs.
Umweltorganisationen, unabhängige Tschernobylexperten und Tschernobyl-Hilfsorganisationen gehen bei ihren Schätzungen von weit höheren Opferzahlen aus. Sie kritisieren den VN-Bericht als Verharmlosung.
Die wirtschaftlichen Folgekosten der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl belaufen sich nach dem Tschernobyl-Bericht vom September 2005 auf mehrere hundert Milliarden US-Dollar. Besonders schwer wiegen jedoch die sozialen und psychologischen Folgen der Katastrophe, die auch 20 Jahre danach die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in den betroffenen Staaten beeinträchtigen.
Infolge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurden auf nationaler und internationaler Ebene umfangreiche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung und zur Erhöhung der Sicherheitsstandards in den bestehenden Atomkraftwerken beschlossen.
Seit den 1990er Jahren sind intensive Anstrengungen unternommen worden, die Reaktorsicherheit in den Staaten des ehemaligen Ostblocks zu erhöhen. Mit Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft ist es gelungen, die Ukraine zur Abschaltung aller Blöcke des Atomkraftwerkes von Tschernobyl zu bewegen. Der letzte Reaktorblock ging im Dezember 2000 vom Netz. Im Rahmen der Verhandlungen der EU mit den neuen Mitgliedsländern in Osteuropa ist vereinbart worden, acht Atomreaktoren bis 2009 stillzulegen. Dennoch sind in mehreren Staaten des ehemaligen Ostblocks immer noch Reaktoren vom Typ des Unglücksreaktors in Betrieb. Sie stellen auch mit verbesserter Sicherheitstechnik ein erhebliches Gefährdungspotenzial für Mensch und Umwelt dar.
Ein gravierendes Problem ist weiterhin die Sanierung des baufälligen Sarkophags um den havarierten Reaktorblock von Tschernobyl. Im Rahmen des internationalen „Shelter Implementation Plan“ ist vorgesehen, einen neuen, haltbaren Sarkophag zu errichten, um die Umwelt dauerhaft vor der Radioaktivität zu schützen. Im Innern des Sarkophags befinden sich immer noch 150 bis 180 Tonnen Reaktorkernmasse, die im Zustand von 1986 konserviert wurde. Die Kosten für die Sanierung der Reaktorruine werden sich auf mehr als eine Milliarde US-Dollar belaufen, von denen die Bundesrepublik Deutschland rund 127 Millionen Euro trägt.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat weltweit eine intensive Diskussion über die Nutzung der Atomenergie, über die Beherrschbarkeit von Großtechnologien und die Grundlagen einer nachhaltigen Energieversorgung ausgelöst. Mit Ausnahme von Finnland und Frankreich wurde seit 1986 von keinem europäischen Land der Neubau eines Atomkraftwerkes geplant oder begonnen. Belgien und Schweden haben den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist mit der Novelle des Atomgesetzes 2001 im Konsens mit der Energiewirtschaft der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen worden. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die geltende Rechtslage zum Atomausstieg nicht zu verändern.

Die Arbeitsgruppe Umwelt der SPD-Bundestagsfraktion:

Die AG Umwelt der SPD-Bundestagsfraktion fordert: