Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel - Das Alter hat Zukunft

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27.01.2012

Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion.

(Beifall bei der SPD)

René Röspel (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir eine Bemerkung, bevor ich mit meiner Rede beginne. Ich habe kein Problem, zu bekennen, dass ich von der Gedenkstunde und von den Worten des Zeitzeugen noch sehr beeindruckt bin, die wir gerade gehört haben. Das geht mir jedes Mal so. Es fällt mir schon sehr schwer, zur Tagesordnung überzugehen.

Ich möchte von dieser Stelle noch sagen: Alle Themen, die wir jetzt behandeln, sind für sich wichtig. Aber ich finde, sie verlieren dennoch an Bedeutung vor dem, was wir vor einer knappen halben Stunde hier gehört haben. Meine Anregung an den Ältestenrat ist, zu überlegen, ob es nicht vielleicht klug wäre, eine solche Gedenkstunde für sich stehen zu lassen und das Plenum – man sieht das an der Beteiligung – nicht weiterzuführen, sondern auszusetzen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gut, es ist, wie es ist. Wir sind aufgerufen, zum Tagesordnungspunkt „Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel“ zu debattieren. Ich will vorab ganz herzlich denjenigen danken, die im Prinzip die Verursacher dieser Forschungsagenda sind. Das sind nämlich aus meiner Fraktion die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler und der Kollege Franz Müntefering. Sie haben im Juni des letzten Jahres, also vor mehr als einem halben Jahr, eine Große Anfrage mit sehr vielen wohlüberlegten Fragen an die Bundesregierung gestellt. Nachdem es mehrere Verzögerungen gab, ist diese Anfrage seitens der Bundesregierung vor wenigen Tagen, im Januar dieses Jahres, beantwortet worden.

Diese Antwort ist sehr lesenswert und enthält viele Anregungen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Tatsache, dass es eine solche Anfrage gegeben hat, die Bundesregierung ein bisschen genötigt hat, auch etwas zu machen und eine Forschungsagenda aufzulegen. Wir waren sehr gespannt, was in dieser Forschungsagenda zu finden ist.

Unter dem Punkt „Ziele der Forschungsagenda“ heißt es in einer Überschrift: „Fragen bündeln“. Das ist schon einmal gut. Dann schreiben Sie:

Die Bundesregierung fasst mit der vorliegenden Agenda relevante Fragestellungen der Forschung zum demografischen Wandel zusammen und zeigt wichtige Handlungsfelder auf.

Das war es allerdings auch. Damit ist im Prinzip alles gesagt.

Wir haben nichts Neues entdeckt. Auch bei unserer Prüfung – Sie werden mich gleich korrigieren können – ist es uns nicht gelungen, zusätzliche Mittel im Haushalt zu finden, die etwas Neues belegen würden. Sie fassen Projekte und Programme zusammen, die es schon in unterschiedlichen Ministerien gibt, und verweisen darauf.

Das Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ ressortiert in Ihrem Ministerium, aber obwohl Sie in Ihrer
Forschungsagenda auf Fragen bezüglich der Auswirkungen des demografischen Wandels auf den medizinischen Bereich im Gesundheitsforschungsprogramm verweisen, muss ich bei einem Blick ins Gesundheitsforschungsprogramm feststellen: Fehlanzeige. An drei Stellen taucht der Begriff demografischer Wandel auf, aber die zentralen Fragen, die damit einhergehen, werden nicht berührt. Es wird vielmehr zu Recht darauf hingewiesen – das macht auch Sinn –, dass die großen Volkskrankheiten in Deutschland untersucht werden sollen. Das ist aber nichts Neues und hat nicht spezifisch mit dem demografischen Wandel zu tun.

Gut finden wir, dass es in der Bundesregierung Erkenntnisse und auch Erkenntnisfortschritte gibt. Auf Seite 2 schreiben Sie ausdrücklich:

Wir werden die Forschungsprogramme zum lebenslangen Lernen, zur Arbeitsplatzgestaltung, zu Produktionstechnologien und zu innovativen Dienstleistungen so weiterentwickeln, dass ältere Menschen künftig ihr Wissen … einbringen können …

Das ist gut und richtig. Es ist seit langem eine Forderung der sozialdemokratischen Partei. Wir haben in den Haushaltsberatungen immer wieder eingefordert, dass im Bereich innovative Dienstleistungen der Arbeitsforschung nicht gekürzt wird, sondern dass dieser Bereich ausgebaut wird, um die Bedingungen zu schaffen, dass Menschen die Zeit an ihrem Arbeitsplatz, die durch den demografischen Wandel länger geworden ist, gut überstehen können.

Wir sind froh, dass Sie endlich darauf eingehen. Aber wir sind auch gespannt, was letzten Endes aus diesen Ankündigungen wird.

Durch Ihre Forschungsagenda zieht sich eine Reihe von spannenden Themen, wie eben schon gesagt wurde. Unter der Überschrift „Mobil in der Stadt“ schreiben Sie:

Wir stärken diese im Alltag so wichtige Mobilität im persönlichen Umfeld, indem wir bei der Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur ein besonderes Augenmerk auf die Bedürfnisse der älteren Generation legen.

Das ist gut, aber ein Allgemeinplatz.

Dass Sie weiter unten „auf individuelle Bedarfe angepasste Rufbus-Systeme und eine Beförderung bis an die Haustür“ fordern, ist ebenfalls gut, aber für eine Forschungsagenda zu wenig; denn die eigentlichen Probleme in den Kommunen liegen darin, dass sie den ÖPNV nicht mehr finanzieren können. Dafür brauchen wir keine Forschungsagenda, sondern es ist schlicht eine andere Finanzierung notwendig, die diese Bundesregierung allerdings nicht gewährleisten wird. Dessen bin ich mir sicher.

(Beifall bei der SPD)

Auf Seite 5 schreiben Sie weiter:

Wir entwickeln die Informations- und Kommunikationstechnologien so weiter, dass älteren Menschen auch auf Reisen fernab der vertrauten Pfade eine intuitive Orientierung möglich wird …

Ich habe den Eindruck, Sie erfinden gerade das Handy oder das Navi neu. Aber es ist völlig abseitig von dem, was ich in meinem täglichen Umfeld erlebe, welche Schwierigkeiten die Menschen durch den demografischen Wandel im Pflegebereich erfahren. Das hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist, glaube ich, nur eine Hüllformel, um die Seiten Ihrer Forschungsagenda zu füllen.

Es zieht sich durch die Forschungsagenda, dass Sie die wirklich interessanten Fragen, die die Menschen angehen, nicht berühren oder nur antippen. Wie muss eine Stadt entwickelt werden, damit sie den durch den demografischen Wandel geänderten Anforderungen gerecht wird? Dabei geht es nicht nur ums Alter, sondern es bedeutet vielleicht auch weniger Kinder. Gleichzeitig kürzen Sie aber die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ um 60 Prozent. Ich weiß aus meiner Heimatstadt, dass die Quartiersentwicklung, bei der es auch um Anpassung an demografische Verhältnisse, eine veränderte Wohnstruktur und ältere Menschen geht, die anders leben als noch vor 10 oder 20 Jahren, nicht mehr möglich ist, weil die Mittel weiter gekürzt werden.

Die Themen, die die Menschen wirklich im Bereich der Pflegeforschung und der Versorgungsforschung interessieren, berühren Sie nicht. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie man Angehörige von Demenzkranken und Pflegebedürftigen entlasten und unterstützen kann.

Wir waren schon weiter. Von 2003 bis 2009 gab es das bundesfinanzierte Modellprojekt HilDe zur Erfassung der Lebensqualität von Demenzkranken und von 2002 bis 2009 das Programm LEANDER, eine Längsschnittstudie, die über die Belastung von Angehörigen, die demenziell Erkrankte pflegen, Auskunft gibt. Ich bin ehrlich: Die Tatsache, dass diese Programme während der rot-grünen Regierungszeit aufgelegt wurden, bedeutet nicht, dass wir das damals auf den Weg gebracht haben. Forschung entwickelt sich unabhängig von der jeweiligen Regierung. Aber die Schlussfolgerungen aus diesen Studien hätten Sie ziehen und in Ihrer Forschungsagenda berücksichtigen können. Wenigstens das hätten wir erwartet. Die zweite Förderlinie zur Pflegeforschung ist 2010 leider ohne Ersatz ausgelaufen. So entgehen uns wichtige Erkenntnisse im Bereich der Pflegeforschung.

Ich finde es spannend, dass Sie einige interessante Fragen auslassen. Es wird zunehmend mehr alleinstehende Menschen geben, die pflegebedürftig sind und keine Familie haben. Was bedeutet das? Es wird zunehmend mehr Migranten mit einem anderen kulturellen Hintergrund geben, die alleine leben und pflegebedürftig sind. Was bedeutet das? Wo in diesem Bereich muss geforscht werden? Was mich fast entsetzt, ist, dass an keiner Stelle Menschen mit Behinderung erwähnt werden. Wir erleben die erste Generation von Menschen mit Behinderung, die die Werkstätten verlässt und in Rente geht. Diese Menschen haben zumeist keine Eltern mehr, die sich um sie kümmern oder sie betreuen. Das stellt für uns eine neue Herausforderung dar. Aber mit keinem einzigen Wort wird das in der Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel erwähnt.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Röspel, achten Sie bitte auf die Zeit.

René Röspel (SPD):
Danke, Frau Präsidentin.

Das Fazit lautet: Diese Bundesregierung fasst – wie üblich – Bestehendes zusammen, legt einen Wünsch-dirwas-Katalog vor und gibt keine zusätzlichen Mittel. Das ist nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen eine Forschungsagenda, die zum Ziel hat, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Dafür werden wir uns einsetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)