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Wir brauchen Nächstenliebe und Solidarität

13.11.2014

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Tagesordnungspunkt beginnen wir das vielleicht anspruchsvollste Gesetzgebungsprojekt dieser Legislaturperiode. Bei der Sterbehilfe bzw. Sterbebegleitung geht es um die Frage, wie der Staat seine unaufgebbare Verpflichtung zum Schutz des Lebens und zum Schutz der Menschenwürde auch und gerade gegenüber dem sterbenden Menschen wahrnehmen kann. Dabei wird der Gesetzgeber seine ganze Sorgfalt nicht nur der Frage widmen müssen, wo es zwischen individueller Selbstbestimmung auf der einen Seite und ärztlicher Verantwortung auf der anderen Seite Handlungs- und Regelungsbedarf gibt, sondern auch, ob überhaupt und wie dieser Handlungsbedarf in allgemeinverbindlichen gesetzlichen Regelungen überzeugend gelöst werden kann.

Ich will vor allem für die vielen an dieser Debatte interessierten Zuhörer darauf hinweisen, dass wir uns wegen der besonderen Ansprüche dieses Gesetzgebungsverfahrens zu einem ungewöhnlichen Beratungsverfahren entschlossen haben. Wir werden uns im Plenum des Deutschen Bundestages mindestens dreimal mit diesem Thema beschäftigen. Heute, in der Orientierungsdebatte, auf die wir uns verständigt haben, wollen wir miteinander die Fragestellungen erörtern und vielleicht auch Gestaltungsoptionen deutlich machen. Es wird dann Anfang nächsten Jahres eine weitere Plenardebatte geben, wenn es die Gesetzentwürfe gibt, für die inzwischen erste Vorstellungen erkennbar sind, die aber alle noch nicht eingebracht sind. Dann wird das selbstverständlich auf der Basis der eingebrachten Gesetzentwürfe nach einem sicherlich auch nicht ganz schnellen Beratungsverlauf in den beteiligten Fachausschüssen in zweiter und dritter Lesung im Plenum des Deutschen Bundestages beraten und abschließend entschieden.

René Röspel (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

„Ich will selbst bestimmen, wie ich sterbe." Ich glaube, jeder und jede in diesem Haus wird diesen Satz unterschreiben können. Vor etwa zehn Jahren hat eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages sich mit diesem Satz und mit der Frage befasst – einige waren dabei –, wie das Ende des menschlichen Lebens denn aussehen soll. In vielen Gesprächen und Anhörungen haben wir herausfinden können – das kann man auch ohne Expertenanhörungen –, wovor die Menschen Angst haben, wenn sie an das eigene Lebensende denken. Es ist die Angst davor, in Schmerzen, mit Leid und Qualen sterben zu müssen; es ist die Angst davor, irgendwo einsam in einem Krankenhaus am Ende des Flures oder in einem Pflegeheim – das ist häufig der Fall – sterben zu müssen; es ist die Angst, den lange hinausgezögerten Tod an irgendwelchen Apparaten und Schläuchen hängend erleben zu müssen. Diese Ängste und diese Eindrücke wurden häufig durch schlechte Bilder und negative Beispiele aus Pflegeheimen verstärkt – es gibt sie –, durch extreme Krankheitssituationen, die sich keiner von uns wünscht und die Frage aufkommen lassen: Was ist eigentlich der Ausweg aus diesem Dilemma?

Besser wurde es auch nicht dadurch, dass, wie wir vor zehn Jahren herausgefunden haben, viele Ärztinnen und Ärzte nicht wirklich in der Lage waren und sind – es hat sich gebessert –, zu unterscheiden, was überhaupt möglich und erlaubt ist. Untersuchungen und gute Studien zeigten, dass ein Therapieabbruch, ein Behandlungsabbruch, der erlaubt, der zulässig ist, dass das Abschalten von Apparaten, das erlaubt ist, häufig als aktive Sterbehilfe angesehen wurden, die verboten ist. Den Richterinnen und Richtern ging es häufig auch so. Das hat es sicherlich nicht besser gemacht. Denn vieles wurde als verboten angesehen, was doch zulässig, erlaubt und sinnvoll ist.

Was ist jetzt die Antwort auf die Ängste, die die Menschen umtreiben? Ist es wirklich, wie gefordert wird, mehr Selbstbestimmung? Ich gebe zu, ich verstehe dies nicht wirklich. Das Selbstbestimmungsrecht ist eines der höchsten Verfassungsrechte, die wir haben. Ich glaube, es wird in Deutschland wirklich garantiert. Niemand darf gegen seinen Willen von seinem Arzt behandelt werden. Wenn Ihr Arzt etwas machen will und Sie es nicht wollen und sagen: „Lass es sein!", dann hat er es zu lassen. Das ist Selbstbestimmungsrecht.

In Deutschland ist auch der Freitod zulässig; die Selbsttötung ist nicht strafbar. Wer sich dazu entscheidet – wir alle wollen sicherlich jeden davon abhalten, den Freitod zu wählen –, darf das tun. Zulässig ist in Deutschland auch die Beihilfe zur Selbsttötung. Wer sagt: „Ich kann das nicht alleine", und jemanden findet, der den Schierlingsbecher hinstellt, der kann das tun lassen. Er muss allerdings selbst den Becher oder den Strohhalm in die Hand nehmen und selbst trinken.

Was also ist die Forderung nach mehr Selbstbestimmung? Eigentlich kann es nur um den Fall gehen, in dem jemand sagt: Ich kann mich nicht mehr selbst töten, ich will mich nicht mehr selbst töten; mach du das bitte für mich! – Das ist Tötung auf Verlangen oder aktive Sterbehilfe – aus meiner Sicht der Rubikon, der nicht überschritten werden darf.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich glaube nicht, dass es eine Antwort auf die Ängste der Menschen ist, jetzt, wie es eines der Positionspapiere vorsieht, gesetzlich und sehr eng zu regulieren, inwieweit Ärzte diese Beihilfe zum Suizid leisten dürfen. Ich glaube, dass der Automatismus sein wird, dass gefragt werden wird – wir haben das bei der Patientenverfügungsdiskussion vor fünf Jahren gehabt –: Warum macht ihr das nur für diesen kleinen Bereich? Wann kommt der nächste Schritt, und mit welcher Begründung vollzieht ihr diesen nächsten Schritt nicht, mehr zuzulassen? Ich glaube, das wird uns nicht weiterführen.

Ich bin auch sehr überzeugt, dass nicht Antwort sein kann, das Treiben der Sterbehilfevereine weiter zuzulassen, sondern – das ist der Punkt, wo ich mich mit Eva Högl, Kerstin Griese und anderen treffe – zu überlegen ist, wie wir das Treiben der organisierten Sterbehilfevereine eindämmen und verhindern oder verbieten können.

Meiner Überzeugung nach ist die Antwort auf die Ängste, die die Menschen umtreiben, nicht mehr Selbstbestimmung, sondern mehr Fürsorge. Wir nehmen den Menschen die Angst vor Schmerzen, wenn wir ihnen die Schmerzen nehmen, und wir nehmen ihnen die Angst vor Einsamkeit, wenn wir Hospizsysteme ausbauen, wenn wir eine Gesellschaft haben, die Einsamkeit nicht mehr so zulässt, wie es jetzt der Fall ist. Wir brauchen Nächstenliebe und Solidarität.

Das sind genau die Punkte, die auch die Enquete-Kommission vor zehn Jahren in einem guten Bericht vorgeschlagen hat, von dem vieles umgesetzt worden ist; denn Medizinstudenten lernen mittlerweile Palliativmedizin. Es gibt den Rechtsanspruch auf Palliativmedizin und -pflege. Auch die Hospizarbeit wird ausgebaut, aber wir haben noch längst nicht eine flächendeckende Palliativversorgung. Es muss also noch viel getan werden. Da bin ich froh über das, was Elisabeth Scharfenberg vor schlug: Warum führen wir nicht einmal eine vierstündige Debatte über Pflege und darüber, wie wir das Leben verbessern können, und vor allen Dingen darüber, wie wir das finanzieren, denn das gehört zur Ehrlichkeit dazu?

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Folgender abschließender Gedanke sei mir erlaubt, weil er noch relativ frisch ist. Wir haben vor drei oder vier Wochen in Gevelsberg ein ambulantes Hospiz eingeweiht, und ich habe – wie wahrscheinlich alle – größten Respekt vor der Arbeit der vielen Tausend Ehrenamtlichen in Deutschland, die in ambulanten oder stationären Hospizen Sterbebegleitung leisten. Das sind für mich die stillen Helden unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir diesen stillen Heldinnen – meist sind es Heldinnen – und Helden etwas besser zuhören würden, wüssten wir vielleicht auch, wie wir das Sterben menschlicher und würdiger gestalten können.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Die Schwerpunkte meiner Arbeit: